aus: Ervin Lázár, Meine sieben Lieben
 

DER ZAUBERER

Die Truppe richtete sich eine Stunde vor der Vorstellung in der Turnhalle ein. Draußen war es noch hell, aber die fast bis zur Decke reichenden, mit einem Drahtgitter bedeckten schmutzigen Fenster ließen nur etwas graubläuliches, stumpfes Licht durch. Sie schalteten die Lampen ein, die mit ihren schwarzen Schirmen von der unwahrscheinlich hohen Decke herunterhingen. Die Gruppe arbeitete in diesem diffusen, spärlichen Licht, jeder suchte sich etwas zu tun, auch der Direktor; nur der Zauberer saß für sich allein in der Mitte des Raumes in einem wackeligen, schmutzstarrenden Stuhl, rauchte eine Zigarette, blies gedankenverloren den Rauch vor sich hin; auf seinem schmalen Gesicht verriet ein kleines Muskelzucken und hartnäckig immer wieder auftauchende Falten seine Anspannung. Anscheinend fiel den anderen gar nicht auf, daß sich der Zauberer aus der allgemeinen Arbeit herausnahm; nicht einmal das störte sie, daß er ausgerechnet an der ungünstigsten Stelle, eben in der Mitte des Raumes, saß - und gingen wortlos mit den herangetragenen Turnbarren um ihn herum; und auch diejenigen der Truppe, die mit gebeugtem Rücken die Podeste schleppten, machten mit ihrer schweren Last ohne ein Wort zu verlieren einen Bogen um seinen Stuhl.

Sie waren schon zum größten Teil mit den Vorbereitungen für die Vorstellung fertig, sie stopften die Kletterseile hinter die Sprossenwände; einer der Akrobaten knüpfte mit atemberaubender Geschicklichkeit die beiden niedrig hängenden Ringe zusammen und zog sie - zusammen mit sich selbst - bis zur Höhe der schwarzbeschirmten Lampen hoch und sprang dann katzengleich aus der Höhe von mehreren Metern auf den Boden.

Der Direktor schaltete im hinteren Teil des Raumes die einfachen tragbaren, aber hervorragend lichtstarken Scheinwerfer ein und blickte zufrieden auf die Podeste, die im Lichtkegel standen. Einer der Beleuchter, dessen Auftrag es war, mit einem beweglichen Scheinwerfer das Geschehen auf der Bühne zu verfolgen, warf zufällig einen Lichtfleck an die Wand, als er das Gelenk der Lampe ausprobieren wollte, so daß man an der Decke einen verwischten, vielleicht durch das Eindringen von Wasser entstandenen phantomartigen Fleck sehen konnte.

Der Zauberer hob den Kopf und beobachtete den gelblichen Lichtfleck, der die Wand entlanglief und schrie auf einmal laut etwas. Alle blieben stehen, der Beleuchter, der den Scheinwerfer testete auch, und schauten erstarrt auf den Zauberer, einige von ihnen traten, als ob sie von ihm einen Befehl erwarteten, näher zu ihm hin. Der Scheinwerfer leuchtete gerade auf die eine Ecke des Raums über der Bühne, alle folgten der Richtung, in die der Finger des Zauberers wies, sahen aber nichts Auffallendes.

- Da ist ein Spinnennetz - sagte er mit leiser, zögernder Stimme, und stand auf.

Er war nicht besonders groß, seinen mageren Körper, der gut zu seinem asketischen Gesicht paßte, bedeckte ein übertrieben weiter, billiger grauer Anzug, und sah dementsprechend beträchtlich mickrig und unscheinbar aus. Für einen Außenstehenden wäre es sicher völlig unverständlich geblieben, warum die anderen um ihn herum unterwürfig erstarrt auf seinen Befehl warteten, und unter der Zirkustruppe waren vielleicht auch einige, die dem Zauberer nur aus Gewohnheit gehorchten. Tatsächlich hing in der Ecke ein zerrissenes, vor Staub schwarzes Spinnennetz. Der Zauberer schlenderte unter die hochgebundenen Ringe und zeigte nach oben.

-Muß das sein?

Der leichte Artist, der eben die Ringe zusammengebunden hatte, stieg in die zusammengelegten Hände von zwei riesigen Kolossen in Athletentrikots. Wie eine Feder schleuderten sie ihn in die Luft, beim ersten Wurf gelang es ihnen nicht, der Artist stieß einen leisen Ruf aus, die beiden in den Athletentrikots sprangen auseinander, und der Junge landete wieder geräuschlos und ohne Laut auf dem Parkett der Turnhalle. Beim zweiten Mal gelang es ihm den einen Ring zu fassen und entwirrte sie mit schnellen, geschickten Bewegungen. Die Ringe schaukelten über ihren Köpfen, klackten immer wieder aneinander und warfen unheimliche Schatten auf den oberen Teil der Wand über der Bühne.

Der Zauberer nahm einen Handfeger in die rechte Hand, mit der linken hängte er sich an den einen Ring und begann sich durch den Schwung seiner Hüfte aufzuschaukeln. Kraftlos baumelte er am Ring, aber der Kreis seines Schaukelns wurde immer größer, und schließlich pendelte er mit bedeutender Geschwindigkeit unter der im Schatten liegenden Decke. Die Zirkustruppe verfolgte sein Schwingen wie einen Tischtennisball mit den Augen oder indem sie ihre Hälse hin- und herbewegten, und beobachteten mit angehaltenem Atem, wie der Zauberer den Handfeger erhob.

Der Schwung trug ihn immer näher an die Ecke mit dem Spinnennetz, es schien, als ob er mit einigen Schwüngen das schwarze baumelnde Spinnennetz mit dem Handfeger erreiche. Sein Gesicht verzerrte sich unter der Kraftanstrengung, seine linke Hand, mit der er seinen Körper hielt, ertrug sichtlich kaum noch das an ihr hängende Gewicht. Das Schwingen hatte jetzt die bestmöglich passende Höhe erreicht, der Zauberer stieß den Handfeger nach vorne, die Mitglieder der Truppe zischten vor Aufregung auf, aber das Spinnengewebe schwebte unberührt weiter, das Werkzeug blieb vielleicht zwei Millimeter von ihm entfernt.

Der Zauberer bremste enttäuscht seinen Schwung, warf im Schwingen den Handfeger hinunter, dann ließ er den Ring los und schlug plump auf dem Parkett auf - die anderen glaubten schon, er fiele um - traten aber keinen einzigen Schritt näher zu ihm hin. Aber schließlich erlangte der Zauberer sein Gleichgewicht und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Der flinke Akrobat fragte ihn hilfsbereit:

- Soll ich es runterholen?

Der Zauberer winkte müde und kraftlos ab, und dann lastete eine unerwartete, noch schwerere Stille auf der Gesellschaft. Alle schauten in die vom blendenden Licht des Scheinwerfers erleuchtete Ecke. Das Spinnennetz war nicht mehr da, und einigen von ihnen schien es entschieden so, daß in der Ecke nie ein Spinnennetz gehangen hatte - auch dann, wenn auch sie beim Anblick des erfolglosen Schwingens eben gerade noch vor Aufregung gezischt hatten.

Plötzlich setzte sich ihr Mechanismus wieder in Bewegung, weil die ersten Zuschauer in der Tür erschienen. Sie rückten noch die letzten Stühle zurecht, der Akrobat knüpfte von neuem die Ringe oben zusammen, und der Beleuchter stellte die Scheinwerfer aus.

Die Scheinwerfer flammten erst wieder zu Beginn der Vorstellung auf, als der Direktor in einem schäbigen Frack mit ausgefransten Ärmeln das Publikum begrüßte. Die Vorstellung verlief im gewohnten Lauf, alles wurde nur als Beikost angesehen, sogar die außerordentlich geschickten Kunststücke des jungen Akrobaten; das Publikum wartete auf den Auftritt des Zauberers.

Dieser Moment war jetzt gekommen: Der Zauberer stand in der Mitte der Bühne hinter einem mit einem weit herabhängenden Tuch verdeckten Tischchen. Schon allein das war sonderbar, daß er während des Kunststücks kaum etwas sprach, die allerüberraschendsten Kunststücke geschahen ohne jeden Kommentar, das festtäglich gekleidete Kleinstadtpublikum verfolgte mit offenen Mündern die nie gesehenen Verwandlungen, das Verschwindenlassen und Hervorzaubern, nur manchmal ertönte ein leises Gemurmel des Staunens, und ab und zu brauste wild der Beifall auf.

Die Nummern zu Beginn hielten keinen Vergleich stand zu dem was kam, wenn der Zauberer einen Hasen in einen Tiger verwandelte. Jedermann wartete darauf; und obwohl der Zauberer nicht ansagte, was passierte, herrschte tiefe Stille im Raum, so daß sich selbst die Mitglieder der Truppe alle zusammen in die Tür drängten und zitternd und schwitzend den Zauberer beobachteten, der soeben ein schwarzes Tuch auf dem leeren Tisch ausbreitete, auf dem schon eine Tischdecke lag. Danach zog er mit einer plötzlichen Bewegung das Tuch weg, und auf dem eben noch leeren Tisch saß ein Hase. Gelächter und Klatschen ertönte, aber es hatte keine Zeit mehr anzuschwellen, weil der Zauberer in seiner Arbeit fortfuhr - übrigens sah man auch: der Beifall interessierte ihn nicht, er verbeugte sich niemals vor dem applaudierenden Publikum - er deckte den Hasen mit dem gleichen schwarzen Tuch zu und riß noch mit dem Schwung des Zudeckens es wieder weg - aber da war schon kein Hase mehr auf dem Tisch, sondern ein ausgewachsener, furchterregend knurrender Tiger. Die Leute in den vorderen Reihen schrien auf, es trennte sie ja rein gar nichts vor dem Untier ein paar Meter vor ihnen, aber der Zauberer bedeckte plötzlich den Tiger, das Tuch glättete sich pflichtgemäß auf dem Tisch, der Zauberer nahm es weg, auf dem Tisch war nichts als die Tischdecke, auch die zog der Zauberer ab: Ein einfacher dreibeiniger unlackierter Tisch stand vor dem Publikum.

Wie bei den früheren Malen auch, brach das Publikum in nicht enden wollenden wilden Beifall aus. Der Zauberer bedeckte den Tisch, um die Nummer zu wiederholen.

Schon da ging ein Flüstern durch die Reihen, man riet herum, mit welchem Trick der Zauberer wohl arbeitete, aber es gab keine Lösung, die wahrscheinlich erschienen wäre. Der Hase hätte noch unter das Tischtuch gepaßt, aber der Tiger auf keinen Fall. Die meisten hielten das für wahrscheinlich, obwohl dabei natürlich ein Rätsel blieb, wohin die zwei Tiere nach der Nummer verschwunden waren, wenn der Zauberer die nicht bis zum Boden reichende Tischdecke vom Tischchen gezogen hatte. Das Gewisper erstarb erst, als der Hase - fröhlich mit den Ohren wackelnd - von neuem auf dem Tisch saß. Nachdem der Zauberer das Kunststück wiederholt hatte, ging ein Gemurmel der Mißbilligung durch die Reihen, das erst aufhörte, als ein großer, forsch aussehender, ausnehmend gepflegt gekleideter Mann sich aus der ersten Reihe erhob. Etwas weitschweifig und wohlformuliert trug er vor, daß er der Physiklehrer des örtlichen Gymnasiums sei, ebendieser Schule, zu der die Turnhalle gehörte, in der die Veranstaltung stattfand, und man habe die Vorstellung nur deswegen genehmigt, weil man schon viel vom Meister (er sagte wirklich: Meister!) gehört habe, und auf sein Geheimnis sei so gut wie die ganze Stadt einhellig neugierig, wobei ihn selbst die Sache als sich mit den Naturwissenschaften und der Philosophie beschäftigenden Menschen die Angelegenheit besonders interessiere, wenngleich ihn weder einfache und bloße Neugier leite, sondern höhere Beweggründe, was man dem von allen zusammen verehrten Meister sicher nicht erklären müsse. Das Verraten des Tricks - bei dem Wort Trick zuckte der Zauberer zusammen, als ob ihn ein Anfall schüttelte - solle freilich nicht umsonst geschehen. Die Stadt habe durch das Einbeziehen gesellschaftlicher Organisationen und verschiedenster Institute eine bedeutende Summe bereitgestellt, und sei ohne weiteres bereit, den Zauberer zu bezahlen, falls er den Trick verrate.

Darauf rannte der Direktor auf die Bühne, bat mit windmühlenartigen Armbewegungen um Ruhe und erklärte, daß davon keine Rede sein könne, der Zauberer werde in keinem Fall den Schleier von seinem Zauberkunststück lüften. Der Zauberer stand gedankenverloren neben dem Direktor, sein blasses Gesicht war rot im Licht der Scheinwerfer, man sah, daß sich auf seiner Stirn Schweißperlen bildeten. Er schob den herumfuchtelnden und schreienden Direktor zur Seite und sagte:

- Ich verrate ihn auch umsonst. -

Der Direktor stellte sich jetzt vor ihn, und ohne sich um die Öffentlichkeit zu kümmern, flehte er ihn an, dann drohte er; er sprach von der Zukunft der Truppe und von verschiedenen, der Zuschauerschaft nicht besonders verständlichen inneren Zusammenhängen und von dem unermeßlichen Schaden, den das Offenlegen des Tricks der Truppe zufügen würde.

Aber der Zauberer kümmerte sich nicht um ihn, und die Zuschauer pfiffen den Direktor aus. Er versuchte noch ein paar Bewegungen, die das Verbieten verdeutlichten, wollte etwas sagen, aber das hörte keiner unter dem Geschrei und Gepfeife, und schließlich mußte er gezwungenermaßen wie ein geprügelter Hund vom Podest humpeln.

Das Publikum sah mit Bestürzung, daß sein vor Schweiß schwimmendes Gesicht zu glänzen anfing. Plötzlich wurde es ruhig, und der Mann mit dem funkelnden Gesicht in seinem verbeulten Anzug sagte:

- Ich habe keinen Trick. -

- Was heißt: keinen Trick? - fragte der Physiklehrer.

- Es gibt einfach keinen. Ich habe den Hasen wirklich in einen Tiger verwandelt. -

Das Publikum quittierte die Ansage mit brausendem Gefallen, - er hat einen guten Humor - meinte einer zwischen den Sitzreihen, und man wartete auf ein Lächeln des Zauberers. Aber er lächelte nicht. Er wiederholte die Nummer auf dem Tisch ohne Tischtuch, aber die Zuschauer glaubten ihm auch dann nicht. Da machte der Zauberer mit zitternder Hand ein Zeichen und sagte:

- Dann seht es halt ohne Tuch! -

Alle rückten auf ihren Sitzen weiter nach vorne, reckten die Hälse, einigen lief ein Schaudern über den Rücken, andere wetteten, was passierte, wenn das Geheimnis gelöst würde.

Der Zauberer stand einige Meter vom jetzt völlig nackten Tisch entfernt, kniff die Augen zusammen, als müsse er sich konzentrieren, und nach einem kurzen Augenblick saß dort ein Hase. Die Verwandlung bemerkte niemand, man sah nur, daß dort, wo eben der Hase gesessen hatte, nun ein Tiger war.

Tiefe Stille lastete auf ihnen, und dann begann der Physiklehrer von neuem:

- Suggestion! -

- Ja, Massensuggestion - wiederholten erleichtert die anderen.

Mit schmerzerfülltem Gesicht und zusammengekniffenen Zähnen stand der Zauberer auf dem Podest, hob die Hände zum Himmel und rief:

- Versteht doch, das ist kein Betrug! Ich kann das eben! -

Seine Stimme klang verzweifelt, um Hilfe flehend.

- Das gleiche wie ein Fakirtrick! - meinte jemand.

Mehrere fragten nach, was der Fakirtrick sei; und der Betreffende erklärte mit stockender Stimme, (nach einigen Worten starrte ihn der ganze Saal an) daß in Indien einige Fakire ein Seil in die Luft werfen könnten, dann wird das Seil steif, dort klettert ein Junge hoch, nach ihm mit einem Messer im Mund der Fakir; oben schneidet er das Kind in Stücke, wirft sie in einen Korb und klettert vor dem staunenden Publikum hinunter, das Seil fällt herunter, das Kind springt heil und lebendig aus dem Korb. Einmal hatten die Amis die Szene gefilmt, aber auf den Einzelbildern war nichts passiert. Der Junge und der Fakir standen Hand in Hand neben dem Korb und schauten auf das Publikum.

Der Physiklehrer rief:

- Wir filmen es! - Dann wandte er sich zum Zauberer und fragte höflich: - Dürfen wir filmen?

Der Zauberer nickte, und eine Mitglieder aus dem Film-Arbeitskreis der Schule holten die Kamera, der Mann mit dem asketischen Gesicht stand mit weichen Knien und traurig auf der Bühne.

Er wiederholte die Szene auch vor der Kamera, und während die Jungen im Labor den Film entwickelten, wiederholte er es auf Bitten des Publikums noch einmal, diesmal nicht auf der Bühne, sondern zwischen den Reihen, direkt zwischen den entsetzten Zuschauern.

- Es ist drauf, es ist drauf! - riefen sie, niemand wollte es glauben, aber irgendwie schwebte jetzt eine Art Feindseligkeit über ihnen; und als sie den Film abspielten, auf dem man jeden Moment der Nummer sah, sprang die Menge auf, strömte zu den Türen, enttäuscht und ein wenig erschrocken, erst auf der Straße wagten sie verächtlich zu rufen: "Was für ein Schweinehund!"

Der Direktor stand am Ausgang und versuchte sie zurückzuhalten, es kamen ja noch zwei Nummern, aber keiner hörte mehr auf ihn, es war ihnen egal.

Nach dem hellen Licht erschien die Halle überraschend dämmrig, als nur noch die herabhängenden Lampen sie erleuchteten. Sie trugen Mann für Mann die Stühle hinaus, packten die Tribüne zusammen und schleppten sie mühsam nach draußen. Jetzt aber liefen sie nicht mehr um den Zauberer herum, der Direktor fuhr ihn an, er solle sich hier davonmachen. Der Zauberer stand pflichtbewußt auf, zog den Stuhl, als müsse er eine riesige Last schleppen, mit weichen Knien neben die Sprossenwand und kauerte sich darauf.


 
 


                                                                                                  

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