aus: Ervin Lázár, Meine sieben Lieben
 

IM SCHNEE

- Steh auf, Junge!

Er stand im Bett auf. Der Vater gab ihm einen Kuß. Sein stoppeliges Gesicht kratzte. Das Wecken am Morgen konnte er sich ohne dieses Kratzen nicht vorstellen. Dann bekam er eine Kopfnuß auf den Scheitel. Sein Vater hatte riesige Hände, mit breiten Handflächen, starken Fingern, und auf jedem obersten Fingerglied einen dichten, runden Haarbüschel.
Er legte sich wieder hin und zog sich die Decke bis über die Nase, und dann zählten sie zusammen:

- Eins - sagte der Vater.
- Zwei - fiel der Junge ein.
Die Drei sagten sie schon zusammen:
- Drrrei!

Er riß sich aus dem Bett los und sah lachend und bibbernd auf seinen Vater. Der Vater begann den Spruch:
- Ene mene miste mu, sag mir, wo sind deine Schuh?
- Können nicht alleine gehn, müssen unterm Bett noch stehn! - antwortete der Junge im Singsang und zerrte die großen Stiefel mit den langen Schäften unter dem Bett hervor. Der Vater nahm ihm den einen aus der Hand, schaute darauf und sah bekümmert drein.
- Die sind ja noch gar nicht trocken! - knurrte er, sah auf das Kind, lachte, und sagte weiter: - Da hast du sicher nasse Socken!

Der Vater lachte lautlos, fast nur mit den Augen, auf die Weise konnte er sehr fröhlich lachen; und das Kind lachte mit seiner hohen Stimme mit, daß es im Zimmer nur so schallte.
Die Sprüchlein erfand er immer mit seinem Vater zusammen. Sie hatten schon sehr viele gesammelt, aber diesen hatte heute der Vater allein aufgesagt. Er wiederholte ihn, um ihn nicht zu vergessen, und kicherte.
- Pst - der Vater hielt den Finger vor den Mund - du weckst Susi auf. - Aber die kleine Schwester schlief weiter. Nur ein strohblonder Haarbüschel schaute aus der aufgebauschten Daunendecke heraus.
Der Vater ging hinaus, und er fing an sich anzuziehen und klapperte dabei mit den Zähnen. Eigentlich fror er nicht richtig, aber es machte ihm Spaß mit den Zähnen zu klappern, und dazwischen sog er die Luft ein und pustete sie laut wieder aus. Im Bett knurrte seine Schwester, dann stand sie auch auf. Ihre Nase sah wie ein roter Knopf aus. Sie blinzelte und sah ihn aus den Augenwinkeln an. Der Junge hörte mit dem Bibbern auf.
- Weiter - befahl das Mädchen.

Die Hefte hatte er gestern schon in die Tasche gesteckt. Es war keine Ledertasche, obwohl der Vater ihm auf dem Markt von Simontornya einen schönen, gelben Schulranzen gekauft hatte, nein, er hatte eine Leinentasche, den ledernen Ranzen sollte Susa später einmal bekommen. Er mußte eine Leinentasche haben, weil Papa mit so einer im Sommer an die Grenze ging; und er liebte es, alles mögliche dort hineinzustecken, auch manchmal nach der Schule; und - aber das wußte keiner - wenn er die Tasche mitnahm, spielte er, er wäre Kobrák, der Schweinehirt. Er ging mit gebeugtem Rücken den Schweinen hinterher; und am duftenden Mittag nahm er die Tasche auf den Schoß und nahm Brot, Zwiebeln und Schinken heraus, und dann das Taschenmesser mit dem Hirschhorngriff. Im Frühling aß er sein Pausenbrot nicht mit den anderen zusammen, sondern setzte sich irgendwo unter einen Baum und schnitt sein Marmeladenbrot mit dem Taschenmesser klein. Währenddessen mußte er auch auf die Schweine aufpassen und rief ihnen drohend zu: "Laß ab von, sonst schick ich dir den Hund auf den Hals!" Und wenn das Schwein nicht parierte, klar, die hatten ziemlich wenig Verstand, die Viecher, holte er den Hund heran und rief: "Los, du!" Dann fiel ihm ein, daß er zu spät zurück zur Schule kommen würde, stand auf und rief noch im Laufen hinter sich: "Genug jetzt, Hund, komm her!" Dafür war die Tasche da.

Seine Mutter legte ihm das Pausenbrot immer auf die Tischkante. Er stopfte es in die Tasche und ging los. Es war nicht sehr kalt, aber der Schnee knirschte hart unter seinen Füßen. Als er durch das Hoftor ging, grüßte er militärisch den Herrn Kevei, der die ganze Nacht vor sich hingefroren hatte. Er hatte tatsächlich einen so gewaltigen Bauch wie der wirkliche Herr Kevei. Sie hatten ihn gestern mit Papa gebaut, weil Schnee gefallen war, der wirklich gut haften blieb; sie hatten ihm Augen aus Holzkohle gemacht und eine Nase aus einer großen Karotte. Die ganze Familie kam um ihn zu bewundern, und Susa sagte: "Herr Kevei".

Bis Nagysarok mußte er auf dem Damm der Kleinbahn gehen. Der Wind blies vom Damm den Schnee herunter, die gelben Büschel der Gräser ragten heraus. Von hier konnte man bei guter Sicht bis zum Dorf schauen. Eigentlich war nur die große glänzende Spitze des Kirchturms im Garten des Diakons zu sehen, aber die gehörte schon zum Dorf. Dort hinter der Kirche ist das Schulhaus und das kaputte Haus der Familie Szalai. Gegenüber der Kirche ist das Geschäft - im Sommer hingen die ledernen Peitschen dort in der Tür, und der Vater kaufte ihm dort immer Süßigkeiten. Dahinter stehen die Häuser in einer Reihe. Jeden Tag geht er dort entlang, nur am Sonntag nicht, denn dann ist keine Schule. Im ersten Haus wohnt Herr Miszlai, der Briefträger, der ihm jeden Morgen zuruft: "Euer Hochwürden, wir verspäten uns!" Er sagt deswegen immer "Hochwürden", weil der Junge einen Mantel anhat, der ihm bis zu den Knöcheln reicht, den hat er von seinem Bruder geerbt, aber er ist schön warm. Im nächsten Haus wohnt Jóska, sein Freund. Dann kommt ein großes gelbes Haus, das den Grubers gehört, dort gibt es einen bissigen Hund. Bei der Familie Kovács gibt es einen Baum mit Birnen, die zusammen mit der Gerste reif werden. Einmal wollte er eine mit dem Stiel einer Sonnenblume herunterschlagen, aber da bemerkte ihn Herr Kovács - er hat einen großen, weißen Schnurrbart, und sein eines Auge hat keine Pupille, es ist ganz grau, und mit diesem Auge sieht er nichts - kam herangelaufen, er selbst merkte nichts, und sagte: - Komm Junge, ich heb dich hoch, dann kommst du ran.
Nach den Kovácsens wohnten die Szamosis, dann die Nagys, ihr Haus reichte schon an den Levente-Platz, dort ist nur ein Haus, das der Szigetis, das ganz von Balken gestützt war.
All das konnte man vom Bahndamm aus nicht sehen. Nur den Turm und den Tannenbaum vom Diakon. Aber jetzt nicht mal mehr das, man sah nicht einmal bis zum Elsbethenhügel, weil dichter Nebel das ganze Land bedeckte.

Bei Nagysarok ging sein Weg auf der Landstraße weiter. Im Schnee, der gestern gefallen war, konnte man keinen Fußabdruck sehen, denn hier ging niemand entlang. Er freute sich, weil es schön war, durch den sauberen weißen Schnee zu stapfen. Ab und zu drehte er sich um; er sah lange, schmaler werdende, von dunkleren Stellen unterbrochene Streifen, seine Fußspuren. Manchmal machte er ganz kleine Schritte, auf die Weise zog er eine regelmäßige Linie in den Schnee und konnte sogar auf diese Weise zeichnen. So etwas hatte er schon oft gemacht; einmal hatte er einen Kopf gezeichnet, der war zwei Wochen lang zu sehen, und einmal sogar seinen Namen geschrieben, aber den hatte gestern sicher schon der Schnee verdeckt.

Der Schnee sah aus wie Puderzucker, manchmal hatte er ihn schon gekostet, aber er schmeckte einfach nur kalt. So sah er auch aus, wenn kleine Luftzüge ihn zu Häufchen zusammenwirbelten oder wenn er von den Ästen der Bäume fiel. Aber jetzt war kein Schnee mehr auf den Ästen. Schon in der Nacht war starker Wind gewesen, man konnte ihn hören, wenn er durch den Schornstein hineinpfiff, und auch jetzt beugte er die nackten Äste der Bäume. Es gruselte ihn ein bißchen, weil es eigentlich um diese Zeit heller war, aber jetzt schien es ihm, als ob es immer dunkler würde. "Vielleicht gibt es ein Gewitter", dachte er und schaute auf den Himmel. Er sah nur in ein unendliches Grau. Da mußte er an den letzten Herbst denken. Es war damals ein ebenso grauer Tag, und irgendwann fing es an zu gewittern. Trotzdem war er zur Schule gegangen, und in der großen Pause hörte er die Lehrerin zum Direktor sagen: - Sogar bei diesem Wetter lassen die vom Einzelhof den Kleinen raus. Was sind das bloß für Leute, diese Eltern? -
Der Direktor sagte ein Weilchen gar nichts und meinte dann: -Das sind wackere Leute, und der Junge wird auch so.- Er hatte sich da ein bißchen geschämt, als er da am Trinkbrunnen stand, und war schnell durch die Büsche auf die andere Seite des Schulhofs gelaufen, weil der Direktor nicht merken sollte, daß er gelauscht hatte.

Daran mußte er denken, und er ging einfach immer weiter. Der Wind wehte nun von der Seite und trieb große schwarze Wolken über den Himmel. Die Krähen kreisten klanglos in dunklen Wolken durch die Luft, dann ließen sie sich in unmittelbarer Nähe ihres Hofes nieder, zwischen den Heuschobern. Er glaubte etwas wie ein Donnern zu hören. Die hartgefrorenen Schneeflocken beißen einen, bis das Gesicht rot ist... Jetzt könnte er noch zurückgehen. Wenn er den Feldweg nimmt, kann er in einer Viertelstunde zuhause sein, aber vielleicht ist da auch Schneetreiben. Er könnte auch da langgehen, von wo er gekommen ist... Jetzt sagt der Direktor wieder zur Lehrerin: "Das sind wackere Leute, und der Junge wird auch so."

Er konnte den Weg nicht mehr erkennen, weil er die Augen zukneifen mußte; er stolperte nur noch vorwärts, rutschte hin und her, die Tasche schlenkerte auf seinem Rücken, und die Stifte rasselten in seiner Federmappe herum. Der Wind bläst im Winter anders als im Sommer. Im Winter sind die Geräusche feiner und schärfer, aber das ist nur die Stimme des Windes. Im Sommer singen die Bäume auch.
Es war jetzt vollständig dunkel. Es fiel auch wieder Schnee, aber nicht mehr sanft und friedlich, wie er es so gern hatte, wenn man zu Hause aus dem Fenster schaute. Die Schneeflocken kniffen ihn und fielen ihm in den Nacken, der geschmolzene Schnee rann ihm den Rücken hinunter.
Am liebsten hätte er geschrieen. Links neben der Landstraße flog etwas über die Felder. Es war unglaublich groß und schwarz. Auch seine Schuhe waren voll mit Schnee, aber seine Füße froren nicht. Er ging einfach weiter und zählte vor sich hin: Jetzt kommt Klein-Elsbethen, dann der Hirtenbrunnen, von da ist es nur ein Sprung bis zum Elsbethenhügel, und von dort aus sieht er schon Herrn Miszlais Haus. Dann sagt er wieder: "Hochwürden, wir kommen zu spät!" Der Wind krallte sich in seinen Mantel, zerrte kurz an ihm, dann fiel er um. Er bekam eiskalten Schnee in den Mund, dann rutschte ihm von der einen Hand der Handschuh ab.

Bei Klein-Elsbethen war es windgeschützt. Hier hinsetzen, dachte er, dann fiel ihm ein, was sein Vater von dem Jungen erzählt hatte, der sich in den Schnee gesetzt hatte, weil er müde geworden war, und die Glocken läuten hörte.

Aus der eben noch schneeweißen Umgebung war ein schwarzer Wirbel geworden. Ein winziger Punkt auf der Landstraße. Mit winzigen Schritten geht er weiter, fällt hin, der Wind stößt ihn weg, und er steht wieder auf. Er sieht bärtige Männer und Zigeuner mit blinkenden Äxten. Sein Gesicht ist klatschnaß, und innen sein Hemd auch. Er geht einfach. Manchmal verschwindet er, dann taucht er wieder auf. Auf dem Rücken hat er die Leinentasche.

Auf dem Elsbethen-Hügel bleibt er stehen. Seine Knie knicken ein. Gleich bin ich da, denkt er, dann kommen ihm die Tränen. Er setzt sich in den Schnee. Ich muß nur ein bißchen gehen, dann sagt der Herr Miszlai, wir verspäten uns, Hochwürden.

Auch im Sommer sitzt er hier gerne. Im Holunderbusch gibt es ein Taubennest. Aber zu dieser Jahreszeit sind die Wildtauben nicht hier. Von fern hört er ein Klingeln. Vielleicht ein Schlitten. Er steht auf. Nur wirbelnde Schneeflocken schlagen ihm in die Augen, er hört kein Klingeln mehr. Jetzt ruhe ich mich ein bißchen aus, denkt er, und fällt in den Schnee. Schön kalt, der Schnee. Hier weht auch kein Wind mehr, die Schneegrube hält ihn ab. Der Schnee auf meinem Gesicht tut gut, nur meine Hand friert. Er wollte sie in die Tasche stecken, aber die Hand erschien ihm groß und schwer - außerdem war die Tasche naß.
...bimm-bamm... bimm... bamm... Die Glocken. Irgendwo läuten die Glocken. Aufstehen. Er muß gehen. Er zählt: Eins... zwei... drrrei. Bei der Drei stand er auf. Die sind ja noch gar nicht trocken, da kriegst du sicher nasse Socken. Ihm war schwindlig. Er schlotterte auch ein bißchen, aber er ging.
Vor dem Haus der Miszlais stand niemand. Das Dorf war wie ausgestorben.

Die Klinke konnte er gar nicht anfassen, seine Hände waren steif geworden, er konnte nur an ihr herumkratzen. Jemand öffnete die Tür. Wohltuende Wärme umfing ihn. Er wollte sagen: "Ich bin da", nur konnte er gar nichts sagen, er konnte auch nicht lachen, aber in ihm hüpfte es vor Freude.
Die Lehrerin drückte ihr warmes Gesicht an seines, nahm ihn auf den Schoß, dann lief sie mit ihm zum Direktor. Hier, in diesem Zimmer, war er schon einmal gewesen, auch damals schwebte schon dieser gute Duft nach Quitten im Raum. -Schnee- sagte der Direktor und begann ihn auszuziehen.
Sie rieben seine Hände und seine Beine mit Schnee ab und gaben ihm Schnaps zu trinken. Hitze breitete sich in seinem Körper aus. Irgendjemand schlug mit einem knallenden Geräusch den Schnee von seinen Schuhen. Das war der Vater. Er wußte es, daß es der Vater war. Sein Gesicht war ernst; so hatte er ihn nur einmal gesehen, als Oma gestorben war. Er war voller Schnee, er trat zum Jungen und nahm seine Hand. Der kleine Junge richtete sich mit den Ellenbogen auf: - Schuhe, Kleider sind nicht trocken, trotzdem hab ich warme Socken.
Der Vater hob die Hand. Er glaubte, er gebe ihm eine Kopfnuß, aber er streichelte ihm nur über den Kopf.



Die Orte, die in dieser Erzählung beschrieben werden, haben einen starken autobiographischen Bezug. Auch einige Namen decken sich mit denen aus Lázárs Kindheit, wie er sie in einem Essay beschreibt, der im März 2006 in der Zeitschrift Hitel veröffentlicht worden ist, vgl.: A szűkebb haza, in: Hitel, März 2006 (hier online zugänglich)


 
 


                                                                                                  

Schrift kleiner
Schrift größer