Einmal in seinem Leben verläuft sich jeder. Auch der kleinen Brunella
passierte das einmal. Am frühen Morgen ging sie von zuhause weg und
schaute ihr Spiegelbild im Bach an. Dabei kämmte sie sich.
"Meine schwarzen Haare sind ja sooo schön" sagte sie zum Bach
und lächelte dabei vor Freude, daß sie so schöne schwarze
Haare hatte.
"Klar sind die schön" murmelte der Bach.
"Und meine Augen sind auch seeeehr schön" sagte sie dann.
Es war nicht zu bestreiten, ihre Augen waren auch sehr schön.
Der Bach nickte. Jetzt zwar nicht mehr so begeistert wie vorher, aber er
nickte, weil Brunella wirklich ein sehr schönes Mädchen war und
so lieb lächelte, daß man ihr einfach nicht böse sein konnte.
Der Bach hätte es sehr gern gehabt, wenn Brunella so etwas gesagt
hätte wie: "Oh Bach, wie kristallklar bist du doch!" oder: "Du machst
so schöne Musik, so schön wie du kann das keiner!" Aber Brunella
sagte nichts in der Richtung. Sie dachte überhaupt nicht daran. Was
sie sagte war:
"Wenn ich meine Augen zumache, sehe ich dich nicht."
Während Brunella sich ihre Haare schönkämmte, hatte
sie Lust, Richtung Wald zu gehen. Zuhause hatte man ihr gesagt, sie darf
nur bis zum Bach gehen, weil sie sich im Wald verlaufen kann und es dort
gefährlich ist. "Hm" dachte sie sich, "was ist da gefährlich?
Die Bäume, die Kräuter, die Reherl, die mögen mich doch
alle. Aber Schlangen gibt es im Wald auch" fiel ihr ein. Selbstbewußt
band sie ihre Haare hoch, auf ihrem schwarzen Haarknoten flatterte das
breite rote Band.
"Auch die Schlangen mögen mich" sagte sie. "Jetzt kämme ich
mich fertig, dann gehe ich los und zeige dem Wald meine Haare" sagte sie
zum Bach.
"Aber geh nicht zu weit hinein" meinte der Bach. "Dir kann was passieren,
im Wald haust der Tiger, der Bär und der Puckuckvogel."
"Die mögen mich!" Brunella stampfte mit dem Bein auf die Erde
und ging los.
Sie hatte den Tiger, den Bären und den Puckuckvogel noch nie gesehen.
Dann, eigentlich klar, verlief sie sich. Aber sie hatte keine Angst.
"Gelt, ihr mögt mich?" fragte sie die Bäume.
"Du bist ein schönes kleines Mädchen" sagten die Bäume.
Dort auf dem Hügel, wo die sieben Linden stehen, traf sie auf den
Tiger.
"Grrrr" sagte der Tiger, "was erlaubst du dir!"
"Ooh, hast du aber eine schöne Stimme!" sagte Brunella und trat
näher. "Magst du nicht noch einmal so knurren?"
Der Tiger war so überrascht, daß er tat, was Brunella wollte.
"Grrr" knurrte er noch einmal, aber jetzt schon viel zahmer.
Als er wieder bei Sinnen war, machte er ein fürchterliches Gesicht:
Mit diesem Dreikäsehoch von Mädchen sollte er Späße
machen?!
"Und dein Gesicht ist sooo lieb" sagte Brunella da. "Darf ich dich
streicheln?" Der Tiger wandte seinen Hals um. "Mein Gesicht lieb?" Schnell
blickte er in eine Pfütze. "Tatsächlich, eigentlich schon lieb"
stellte er zufrieden fest und probierte ein Lächeln. Sein Kiefergelenk
knirschte, weil der Tiger zum letzten Mal vor sieben Jahren gelächelt
hatte. "Du bist ein liebes Mädchen" meinte er, "du kannst mich gern
streicheln".
Brunella streichelte den Tiger und sagte: "Schön, daß ich
dich getroffen habe, Tiger. Ich mag dich."
Der Tiger wurde auf einmal sehr glücklich, sprang ein paarmal
in die Luft und schlug einige Purzelbäume. Als er mit dem Umhergehupfe
fertig war, blickte er Brunella staunend an.
"Was suchst du eigentlich hier, kleines Mädchen?"
"Ich habe mich verlaufen" sagte Brunella selbstbewußt, "ich wohne
beim Bachufer, dort in dem Haus mit den roten Ziegeln."
"Ich weiß schon" sagte der Tiger, "spring einfach auf meinen
Rücken, dann nehme ich dich ein Stückerl mit"
Brunella setzte sich dem Tiger auf den Rücken. Es war wunderbar,
so durch den Wald zu sausen. An einer Lichtung hielten sie an. "Weiter
gehe ich nicht" sagte der Tiger. "Hier gehst du einfach gradeaus, dann
findest du nach Hause. Brunella ging los, wie der Tiger es ihr gesagt hatte,
und sang vor sich hin. Irgendwann sah sie von fern einen braunen Fleck.
"Geh schau!" sagte sie, "das ist vielleicht der Bär!" und ging in
die Richtung. Es war tatsächlich der Bär. Schon lang hatte er
das Mädchen gesehen und sich gewundert, wieso sie so mutig im finsteren
Wald spazierenging. Das gefiel ihm, und er hatte vor, ihr nichts zu tun.
Aber auf sie treffen wollte er nicht; es sollte nicht jeder wissen, daß
er gerade hier in der Mondscheingrotte wohnte. Aber Brunella war schon
nur mehr ein paar Schritte entfernt. Der Bär wollte keine Umstände
haben und dachte sich, lieber läuft er weg.
"Lauf nicht davon!" rief Brunella ihm nach. "Ich möchte sooo gern
mit dir reden!"
"Jetzt ist es eh schon egal" dachte der Bär und blieb stehen.
"Komm bloß nicht näher, weil ich dich sonst auffresse!"
rief er zu ihr hinüber.
"Du bist ja lustig!" lachte Brunella. "Warum willst du mich erschrecken?"
Der Bär fing an sich zu wundern.
"Wie sprichst du mit mir?"
"Weil ich dich mag" lachte sie und reichte dem Bären die Hand.
Der Bär paßte auf, daß er die Hand nicht zu fest drückte.
"Und warum magst du mich?"
"Einfach so. Zeig mal deinen Rücken, ich glaube, der ist dunkelbraun."
"Das stimmt" sagte der Bär und zeigte seinen Rücken. Er bekam
gute Laune. Das ist ein schönes Gefühl, wenn man von einem Mädchen
gemocht wird. Das heißt, wenn Bär von einem Mädchen gemocht
wird.
Brunella erzählte, daß sie sich verlaufen hatte und daß
sie sich mit dem Tiger getroffen hatte.
"Und der hat dir nichts getan?" Der Bär wunderte sich.
"Oh," lachte Brunella, so ein lieber Tiger, was hätte der mir
tun sollen? Er hat mich auf seinem Rücken bis zur Lichtung gebracht,
damit ich schneller nach Haus komme."
"Wenn du magst, kann ich dich auch ein Stückerl auf meinem Rücken
mitnehmen."
"Das wäre toll" antwortete das Mädchen, "aber weißt
du, ich bin so hungrig."
"Magst du Honig?" fragte der Bär.
"Sehr. Du kannst mir Honig geben" sagte Brunella. Der Bär nahm
sie an der Hand und führte sie zu seiner Höhle. Die Höhle
war wunderschön, mit im Zickzack verlaufenden Sälen.
"Schön, nicht wahr?" Der Bär war sehr stolz. "Außer
dir hat das noch keiner gesehen." Wunderschön!" staunte Brunella,
und war glücklich, daß sie sich mit dem Bären angefreundet
hatte. "Es gibt nichts besseres auf der Welt," redete der Bär ihr
zu, "iß ruhig noch etwas." Sie ließ sich nicht lange bitten
und stopfte sich den Bauch bis zum Hals voll.
"Ich hätte nicht so viel essen sollen. Jetzt bin ich sicher schwer"
sagte sie, als der Bär sie auf seinem Rücken nach Hause trug.
Der Bär lächelte. "Was für ein liebes Mädchen"
dachte er, "sie sorgt sich darum, daß sie zu schwer ist für
mich. Aber sie war wirklich federleicht, der Bär spürte kaum,
daß sie auf seinem Rücken saß.
"So, weiter gehe ich nicht. Wenn du von hier aus geradeaus weitergehst,
kommst du bald nach Haus" sagte der Bär, und als Brunella schon fast
zwischen den Bäumen verschwunden war, rief er ihr nach: "Komm bald
wieder!"
"Gern!" rief Brunella zurück.
Als Brunella gerade unter einer mächtigen Esche stand und zurückrief,
ertönte eine donnernde Stimme: "Wer wagt es, meine Ruhe zu stören?"
"Ja wer bist denn du?" fragte das Mädchen, hielt sich die Hand
als Schatten über die Augen und schaute auf den Baum.
"Ich bin der Entsetzliche Dreirädrige Puckuckvogel" donnerte die
Stimme weiter, "und wenn du dich nicht sofort von hier wegschleppst, fege
ich dich mit einem Flügelschlag fort!"
"Du bist aber dumm" sagte Brunella ruhig, "schau mal, wenn du freundlich
mit mir redest und zu mir herunterkommst, dann können wir uns anfreunden.
Und bald wirst du dich dann freuen, daß dich jemand mag."
"Sowas" sagte der Puckuckvogel, "ich lebe schon seit dreihundert Jahren
hier, aber ich habe mich noch mit niemandem angefreundet."
"Vielleicht ist hier ja noch keiner hingekommen."
"Aber sicher" antwortete der Puckuckvogel, "vor zweihundertzehn Jahren
ein Hase und vor achtzig Jahren ein Köhler. Aber wir haben uns nicht
angefreundet. Vielleicht deswegen, weil ich sie nicht bemerkt habe."
"Na siehst du" sagte Brunella, du könntest ja einmal herunterkommen.
Ich habe eh noch nie einen Puckuckvogel gesehen."
Der Puckuckvogel knurrte ein bißchen herum, dann kam er herunter.
Er war ein riesiger Vogel, und anstelle der Beine hatte er tatsächlich
drei Räder.
"Ha, du bist aber ein komischer Kauz!" sagte Brunella, aber du hast
sicher ein gutes Herz, dich kann man sicher sehr gern haben.
Dabei streichelte sie den Puckuckvogel. Dem Puckuckvogel lief ein warmer
Schauer über die Räder, und er dachte sich, dieses Mädchen
hätte auch schon dreihundert Jahre früher kommen können.
Dann hätte er in der Zwischenzeit sicher singen gelernt wie die Goldamsel.
Er flehte Brunella an, sie sollte nicht gehen, aber es wurde bald dunkel,
und das Mädchen mußte sich langsam auf den Heimweg machen. Der
Entsetzliche Dreirädrige Puckuckvogel nahm sie auf den Rücken
und flog mit ihr bis zum Waldrand.
"Von hier sieht man sogar schon die Häuser" sagte er, und riß
sich aus seinem Flügel eine Feder aus. "Die kannst du zur Erinnerung
aufbewahren."
Das Mädchen war gerade am Bach angelangt und schon beinah zuhause,
da hörte es eine Säuferstimme knarren: "Stehenbleiben! Wer treibt
sich hier in meinem Revier herum?"
Ein struppiger Mensch stand da, sein Bart reichte bis zum Gürtel,
mit seinem Gewehr zielte er auf Brunella. "Ich bin der Jäger. Wenn
du nicht stehenbleibst, schieße ich dich ab."
"Abschießen!" lachte Brunella. "Wo hat man das schon mal gehört,
ein kleines Mädchen abzuschießen. Das glaubst du nicht im Ernst.
An deinen Augen sieht man, daß du ein guter Mensch bist, und ich
mag die guten Menschen, weil die guten Menschen mich auch mögen."
"Wirklich? An meinen Augen sieht man das?" fragte der Jäger und
ließ das Gewehr sinken.
Brunella lächelte den Jäger an, der Jäger lächelte
zurück.
"Sei mir nicht böse, daß ich dich erschreckt habe" sagte
der Jäger, "ich wußte nicht, daß du mich magst."
"Oh, ich mag jeden" sagte das Mädchen, und mich mag auch jeder.
Die Kräuter, die Bäume, die Blumen. Und den Tiger und den Bären
und den Entsetzlichen Dreirädrigen Puckuckvogel."
Das kann nicht sein" sagte der Jäger, und preßte die Hand
über seiner Flinte zusammen. "Du hast den Tiger, den Bären und
den Puckuckvogel nie gesehen.
"Und wohl habe ich die gesehen" sagte das Mädchen stolz, "und
sicher würden die dich auch mögen. Der Tiger hat mich auf dem
Rücken getragen, beim Bären habe ich Honig gegessen, und vom
Puckuckvogel habe ich eine Feder gekriegt zur Erinnerung an ihn. Der Tiger
wohnt auf dem Hügel, wo die sieben Linden stehen, der Bär in
der Mondscheinhöhle, der Puckuckvogel auf der großen Esche."
"Oh" sagte leise der Jäger und rollte mit den Augen.
"Magst du mich streicheln?" fragte Brunella.
"Sicher, sicher" sagte der Jäger schnell. "Und jetzt tummel dich,
weil es bald Nacht wird.
Sie trennten sich. Das Mädchen kam an den Bach. "Servus, Bach"
sagte es, "siehst du, mir ist nichts passiert. Ich mag alle, und alle mögen
mich."
Dann fiel ein Schuß.
"Der Tiger" sagte der Bach.
Brunella stand wie versteinert da. Sie konnte nichts sagen. Dann donnerte
der zweite Schuß.
"Der Bär" sagte der Bach.
"Nein, das wollte ich nicht" rief das Mädchen, aber da trug der
Wind schon den dritten Schuß herbei.
"Der Entsetzliche Dreirädrige Puckuckvogel" sagte der Bach.
Das Mädchen fiel auf die Knie, weinte bitter, und seine Tränen
fielen in den Bach. Das Wasser wurde aufgewirbelt durch die Tränen.
"Jetzt kannst du dich nicht mehr in meinem Spiegel anschauen" sagte
der Bach, "außer vielleicht, du machst die Augen zu."
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