aus: Ervin Lázár, Die siebenköpfige Fee
 

DAS MÄDCHEN, DAS JEDEN MOCHTE

Einmal in seinem Leben verläuft sich jeder. Auch der kleinen Brunella passierte das einmal. Am frühen Morgen ging sie von zuhause weg und schaute ihr Spiegelbild im Bach an. Dabei kämmte sie sich.
"Meine schwarzen Haare sind ja sooo schön" sagte sie zum Bach und lächelte dabei vor Freude, daß sie so schöne schwarze Haare hatte.
"Klar sind die schön" murmelte der Bach.
"Und meine Augen sind auch seeeehr schön" sagte sie dann.
Es war nicht zu bestreiten, ihre Augen waren auch sehr schön. Der Bach nickte. Jetzt zwar nicht mehr so begeistert wie vorher, aber er nickte, weil Brunella wirklich ein sehr schönes Mädchen war und so lieb lächelte, daß man ihr einfach nicht böse sein konnte. Der Bach hätte es sehr gern gehabt, wenn Brunella so etwas gesagt hätte wie: "Oh Bach, wie kristallklar bist du doch!" oder: "Du machst so schöne Musik, so schön wie du kann das keiner!" Aber Brunella sagte nichts in der Richtung. Sie dachte überhaupt nicht daran. Was sie sagte war:
"Wenn ich meine Augen zumache, sehe ich dich nicht."
Während Brunella sich ihre Haare schönkämmte, hatte sie Lust, Richtung Wald zu gehen. Zuhause hatte man ihr gesagt, sie darf nur bis zum Bach gehen, weil sie sich im Wald verlaufen kann und es dort gefährlich ist. "Hm" dachte sie sich, "was ist da gefährlich? Die Bäume, die Kräuter, die Reherl, die mögen mich doch alle. Aber Schlangen gibt es im Wald auch" fiel ihr ein. Selbstbewußt band sie ihre Haare hoch, auf ihrem schwarzen Haarknoten flatterte das breite rote Band.
"Auch die Schlangen mögen mich" sagte sie. "Jetzt kämme ich mich fertig, dann gehe ich los und zeige dem Wald meine Haare" sagte sie zum Bach.
"Aber geh nicht zu weit hinein" meinte der Bach. "Dir kann was passieren, im Wald haust der Tiger, der Bär und der Puckuckvogel."
"Die mögen mich!" Brunella stampfte mit dem Bein auf die Erde und ging los.
Sie hatte den Tiger, den Bären und den Puckuckvogel noch nie gesehen.

Dann, eigentlich klar, verlief sie sich. Aber sie hatte keine Angst.
"Gelt, ihr mögt mich?" fragte sie die Bäume.
"Du bist ein schönes kleines Mädchen" sagten die Bäume. Dort auf dem Hügel, wo die sieben Linden stehen, traf sie auf den Tiger.
"Grrrr" sagte der Tiger, "was erlaubst du dir!"
"Ooh, hast du aber eine schöne Stimme!" sagte Brunella und trat näher. "Magst du nicht noch einmal so knurren?"
Der Tiger war so überrascht, daß er tat, was Brunella wollte.
"Grrr" knurrte er noch einmal, aber jetzt schon viel zahmer.
Als er wieder bei Sinnen war, machte er ein fürchterliches Gesicht: Mit diesem Dreikäsehoch von Mädchen sollte er Späße machen?!
"Und dein Gesicht ist sooo lieb" sagte Brunella da. "Darf ich dich streicheln?" Der Tiger wandte seinen Hals um. "Mein Gesicht lieb?" Schnell blickte er in eine Pfütze. "Tatsächlich, eigentlich schon lieb" stellte er zufrieden fest und probierte ein Lächeln. Sein Kiefergelenk knirschte, weil der Tiger zum letzten Mal vor sieben Jahren gelächelt hatte. "Du bist ein liebes Mädchen" meinte er, "du kannst mich gern streicheln".
Brunella streichelte den Tiger und sagte: "Schön, daß ich dich getroffen habe, Tiger. Ich mag dich."
Der Tiger wurde auf einmal sehr glücklich, sprang ein paarmal in die Luft und schlug einige Purzelbäume. Als er mit dem Umhergehupfe fertig war, blickte er Brunella staunend an.
"Was suchst du eigentlich hier, kleines Mädchen?"
"Ich habe mich verlaufen" sagte Brunella selbstbewußt, "ich wohne beim Bachufer, dort in dem Haus mit den roten Ziegeln."
"Ich weiß schon" sagte der Tiger, "spring einfach auf meinen Rücken, dann nehme ich dich ein Stückerl mit"
Brunella setzte sich dem Tiger auf den Rücken. Es war wunderbar, so durch den Wald zu sausen. An einer Lichtung hielten sie an. "Weiter gehe ich nicht" sagte der Tiger. "Hier gehst du einfach gradeaus, dann findest du nach Hause. Brunella ging los, wie der Tiger es ihr gesagt hatte, und sang vor sich hin. Irgendwann sah sie von fern einen braunen Fleck. "Geh schau!" sagte sie, "das ist vielleicht der Bär!" und ging in die Richtung. Es war tatsächlich der Bär. Schon lang hatte er das Mädchen gesehen und sich gewundert, wieso sie so mutig im finsteren Wald spazierenging. Das gefiel ihm, und er hatte vor, ihr nichts zu tun. Aber auf sie treffen wollte er nicht; es sollte nicht jeder wissen, daß er gerade hier in der Mondscheingrotte wohnte. Aber Brunella war schon nur mehr ein paar Schritte entfernt. Der Bär wollte keine Umstände haben und dachte sich, lieber läuft er weg.
"Lauf nicht davon!" rief Brunella ihm nach. "Ich möchte sooo gern mit dir reden!"
"Jetzt ist es eh schon egal" dachte der Bär und blieb stehen.
"Komm bloß nicht näher, weil ich dich sonst auffresse!" rief er zu ihr hinüber.
"Du bist ja lustig!" lachte Brunella. "Warum willst du mich erschrecken?"
Der Bär fing an sich zu wundern.
"Wie sprichst du mit mir?"
"Weil ich dich mag" lachte sie und reichte dem Bären die Hand.
Der Bär paßte auf, daß er die Hand nicht zu fest drückte. "Und warum magst du mich?"
"Einfach so. Zeig mal deinen Rücken, ich glaube, der ist dunkelbraun."
"Das stimmt" sagte der Bär und zeigte seinen Rücken. Er bekam gute Laune. Das ist ein schönes Gefühl, wenn man von einem Mädchen gemocht wird. Das heißt, wenn Bär von einem Mädchen gemocht wird.
Brunella erzählte, daß sie sich verlaufen hatte und daß sie sich mit dem Tiger getroffen hatte.
"Und der hat dir nichts getan?" Der Bär wunderte sich.
"Oh," lachte Brunella, so ein lieber Tiger, was hätte der mir tun sollen? Er hat mich auf seinem Rücken bis zur Lichtung gebracht, damit ich schneller nach Haus komme."
"Wenn du magst, kann ich dich auch ein Stückerl auf meinem Rücken mitnehmen."
"Das wäre toll" antwortete das Mädchen, "aber weißt du, ich bin so hungrig."
"Magst du Honig?" fragte der Bär.
"Sehr. Du kannst mir Honig geben" sagte Brunella. Der Bär nahm sie an der Hand und führte sie zu seiner Höhle. Die Höhle war wunderschön, mit im Zickzack verlaufenden Sälen.
"Schön, nicht wahr?" Der Bär war sehr stolz. "Außer dir hat das noch keiner gesehen." Wunderschön!" staunte Brunella, und war glücklich, daß sie sich mit dem Bären angefreundet hatte. "Es gibt nichts besseres auf der Welt," redete der Bär ihr zu, "iß ruhig noch etwas." Sie ließ sich nicht lange bitten und stopfte sich den Bauch bis zum Hals voll.
"Ich hätte nicht so viel essen sollen. Jetzt bin ich sicher schwer" sagte sie, als der Bär sie auf seinem Rücken nach Hause trug.
Der Bär lächelte. "Was für ein liebes Mädchen" dachte er, "sie sorgt sich darum, daß sie zu schwer ist für mich. Aber sie war wirklich federleicht, der Bär spürte kaum, daß sie auf seinem Rücken saß.
"So, weiter gehe ich nicht. Wenn du von hier aus geradeaus weitergehst, kommst du bald nach Haus" sagte der Bär, und als Brunella schon fast zwischen den Bäumen verschwunden war, rief er ihr nach: "Komm bald wieder!"
"Gern!" rief Brunella zurück.
Als Brunella gerade unter einer mächtigen Esche stand und zurückrief, ertönte eine donnernde Stimme: "Wer wagt es, meine Ruhe zu stören?"
"Ja wer bist denn du?" fragte das Mädchen, hielt sich die Hand als Schatten über die Augen und schaute auf den Baum.
"Ich bin der Entsetzliche Dreirädrige Puckuckvogel" donnerte die Stimme weiter, "und wenn du dich nicht sofort von hier wegschleppst, fege ich dich mit einem Flügelschlag fort!"
"Du bist aber dumm" sagte Brunella ruhig, "schau mal, wenn du freundlich mit mir redest und zu mir herunterkommst, dann können wir uns anfreunden. Und bald wirst du dich dann freuen, daß dich jemand mag."
"Sowas" sagte der Puckuckvogel, "ich lebe schon seit dreihundert Jahren hier, aber ich habe mich noch mit niemandem angefreundet."
"Vielleicht ist hier ja noch keiner hingekommen."
"Aber sicher" antwortete der Puckuckvogel, "vor zweihundertzehn Jahren ein Hase und vor achtzig Jahren ein Köhler. Aber wir haben uns nicht angefreundet. Vielleicht deswegen, weil ich sie nicht bemerkt habe."
"Na siehst du" sagte Brunella, du könntest ja einmal herunterkommen. Ich habe eh noch nie einen Puckuckvogel gesehen."
Der Puckuckvogel knurrte ein bißchen herum, dann kam er herunter.  Er war ein riesiger Vogel, und anstelle der Beine hatte er tatsächlich drei Räder.
"Ha, du bist aber ein komischer Kauz!" sagte Brunella, aber du hast sicher ein gutes Herz, dich kann man sicher sehr gern haben.
Dabei streichelte sie den Puckuckvogel. Dem Puckuckvogel lief ein warmer Schauer über die Räder, und er dachte sich, dieses Mädchen hätte auch schon dreihundert Jahre früher kommen können. Dann hätte er in der Zwischenzeit sicher singen gelernt wie die Goldamsel. Er flehte Brunella an, sie sollte nicht gehen, aber es wurde bald dunkel, und das Mädchen mußte sich langsam auf den Heimweg machen. Der Entsetzliche Dreirädrige Puckuckvogel nahm sie auf den Rücken und flog mit ihr bis zum Waldrand.
"Von hier sieht man sogar schon die Häuser" sagte er, und riß sich aus seinem Flügel eine Feder aus. "Die kannst du zur Erinnerung aufbewahren."
Das Mädchen war gerade am Bach angelangt und schon beinah zuhause, da hörte es eine Säuferstimme knarren: "Stehenbleiben! Wer treibt sich hier in meinem Revier herum?"
Ein struppiger Mensch stand da, sein Bart reichte bis zum Gürtel, mit seinem Gewehr zielte er auf Brunella. "Ich bin der Jäger. Wenn du nicht stehenbleibst, schieße ich dich ab."
"Abschießen!" lachte Brunella. "Wo hat man das schon mal gehört, ein kleines Mädchen abzuschießen. Das glaubst du nicht im Ernst. An deinen Augen sieht man, daß du ein guter Mensch bist, und ich mag die guten Menschen, weil die guten Menschen mich auch mögen."
"Wirklich? An meinen Augen sieht man das?" fragte der Jäger und ließ das Gewehr sinken.
Brunella lächelte den Jäger an, der Jäger lächelte zurück.
"Sei mir nicht böse, daß ich dich erschreckt habe" sagte der Jäger, "ich wußte nicht, daß du mich magst."
"Oh, ich mag jeden" sagte das Mädchen, und mich mag auch jeder. Die Kräuter, die Bäume, die Blumen. Und den Tiger und den Bären und den Entsetzlichen Dreirädrigen Puckuckvogel."
Das kann nicht sein" sagte der Jäger, und preßte die Hand über seiner Flinte zusammen. "Du hast den Tiger, den Bären und den Puckuckvogel nie gesehen.
"Und wohl habe ich die gesehen" sagte das Mädchen stolz, "und sicher würden die dich auch mögen. Der Tiger hat mich auf dem Rücken getragen, beim Bären habe ich Honig gegessen, und vom Puckuckvogel habe ich eine Feder gekriegt zur Erinnerung an ihn. Der Tiger wohnt auf dem Hügel, wo die sieben Linden stehen, der Bär in der Mondscheinhöhle, der Puckuckvogel auf der großen Esche."
"Oh" sagte leise der Jäger und rollte mit den Augen.
"Magst du mich streicheln?" fragte Brunella.
"Sicher, sicher" sagte der Jäger schnell. "Und jetzt tummel dich, weil es bald Nacht wird.
Sie trennten sich. Das Mädchen kam an den Bach. "Servus, Bach" sagte es, "siehst du, mir ist nichts passiert. Ich mag alle, und alle mögen mich."
Dann fiel ein Schuß.
"Der Tiger" sagte der Bach.
Brunella stand wie versteinert da. Sie konnte nichts sagen. Dann donnerte der zweite Schuß.
"Der Bär" sagte der Bach.
"Nein, das wollte ich nicht" rief das Mädchen, aber da trug der Wind schon den dritten Schuß herbei.
"Der Entsetzliche Dreirädrige Puckuckvogel" sagte der Bach.
Das Mädchen fiel auf die Knie, weinte bitter, und seine Tränen fielen in den Bach. Das Wasser wurde aufgewirbelt durch die Tränen.
"Jetzt kannst du dich nicht mehr in meinem Spiegel anschauen" sagte der Bach, "außer vielleicht, du machst die Augen zu."
 
 


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