Titus traf einmal einen alten Mann. Der alte Mann hatte einen Bart bis
zum Knie. Er fragte Titus: "Weißt du, mein Sohn, wer ich bin?"
"Sicher weiß ich das" sagte Titus. Du bist König Ajachtan
Kutarbani."
"Holla!" Der Alte wunderte sich. Vor lauter Staunen wuchs sein Bart
um eine gute Spanne.
"Das bin ich nicht. Aber wenn du das schon herausgefunden hast, dann
bin ich es ab jetzt. Was für ein König meintest du eben?"
"Ajachtan Kutarbani."
"Sehr gut" sagte der Alte zufrieden und strich über seinen eine
Spanne längeren Bart. "Und was meinst du, warum ich dich gerufen habe?"
"Weil du was erzählen willst."
"Hollala!" Der Alte staunte noch einmal. Zur Abwechslung verkürzte
sich sein Bart um eine Spanne. "Eigentlich wollte ich dich nur fragen,
wie spät es ist, aber wenn du meinst, dann werde ich wirklich erzählen.
Weißt du auch, was ich erzählen wollte?"
"Wie sollte ich das nicht wissen, natürlich über die Flötenbäume."
Der Alte sagte zum dritten Mal "Holla", und sein Bart wuchs um eine
Spanne. "In Wirklichkeit wollte ich über den Langhaarigen Glatzkopf
Tillula erzählen, aber jetzt erzähle ich über die Flötenbäume.
Wie sehen die aus?"
"So, daß Flöten darauf wachsen."
(Holla - Bart - Spanne)
"Gibt es überhaupt solche Bäume?"
"Natürlich."
"Wer weiß das alles?"
"Hauptsächlich du."
"Holla." Jetzt war der Alte (also eigentlich König Ajachtan Kutarbani)
dermaßen erstaunt, daß sein Bart gleichzeitig um eine Spanne
wuchs und schrumpfte. (Beziehungsweise blieb er genauso lang, wie er vorher
war.) "Und was für einen Beweis hast du dafür, daß es die
Flötenbäume wirklich gibt?"
"Den, daß du gleich von ihnen erzählen wirst. Was es nicht
gibt, darüber kann man nichts erzählen."
"Das stimmt" sagte König Ajachtan Kutarbani, und sofort blieb
sein Bart friedlich. "Und über wieviele Flötenbäume soll
ich erzählen?"
"Über zwei. Du weißt sehr gut, daß es nicht mehr gibt.
Es gibt nur zwei Flötenbäume auf der ganzen Welt."
"Tatsächlich" sagte König Ajachtan Kutarbani, das weiß
ich sehr wohl. Und ich weiß auch sehr wohl, daß jeder Mensch
einmal mit diesen beiden Bäumen zu tun hat. Es gibt keinen Menschen,
der nicht einmal vor die Flötenbäume geraten würde."
"Sicher keinen!"
"Jetzt wollte ich die Geschichte erzählen... warte mal einen Moment...
Wo stehen noch einmal die beiden Flötenbäume?"
"Was heißt, wo stehen die! Im Hof deines Palasts."
"Ach ja!" König Ajachtan Kutarbani schlug sich mit der Hand auf
die Stirn. "Auf dem Hofe meines schilfgedeckten Palastes!"
"Nicht schilfgedeckt. Holzschindelgedeckt!"
"Und ob er mit Holzschindeln gedeckt ist!" Der König war begeistert
und sprach weiter:
"Holz auf Holz und Stein
auf Stein,
Durch blinde Fenster Sternenschein!"
"Jetzt zieh die Geschichte nicht mit Vorträgen in die Länge."
Titus paßte genau auf.
"Ich halte keine Vorträge, ich habe nur einen Vers aufgesagt" verteidigte
sich Ajachtan Kutarbani.
"Also, der aus Holz gezimmerte, aus Stein gemauerte, blindfenstrige
holzgeschindelte, spitztürmige schöne Palast steht am Rande des
Rechteckigen Rundwalds."
"Soviel ist sicher." Titus nickte. "Nur sprich jetzt noch vom Elfenland,
denn das beginnt gerade hinter deinem Palast."
"Ziemlich nahe daran, weil man abends bis zu uns hört, wie die
Wächterin von Elfenland, die Siebenköpfige Fee, singt."
"Siebenstimmig."
"Sicher. Mit jedem ihrer Münder eine Stimme.
"Aber nur so lange, bis sie sechs Köpfe noch nicht verloren hatte."
"Sie hat sie schon verloren? Dann hat sie gegen Ende nur mehr mit einer
Stimme gesungen."
"Sicher."
"Glaubst du nicht, daß wir uns in eine andere Geschichte verlaufen
haben?" Der König kam ins Grübeln.
"Doch, doch. Beinahe hätten wir uns verlaufen. Du warst zuletzt
bei Holz und Stein und Fensterscheiben und... "
"Nu, ein schöner Palast" ergänzte der König. Ja, dort
wohnte ich einst, als mein Bart noch rabenschwarz war... und ich war ein
wirklich guter König, überhaupt der beste König."
"Der allerbeste König..." Titus war begeistert.
"Meine Untertanen..." wollte Ajachtan Kutarbani weitermachen, aber
Titus fiel ihm ins Wort: "Untertanen? Du hattest nur einen Untertan."
"Dann habe ich meinen Untertan immer gut behandelt. Wenn er hungrig
war, habe ich ihm befohlen zu essen... Wer war eigentlich mein Untertan?"
"Ja du selbst. Der einzige Untertan von König Ajachtan Kutarbani
war Ajachtan Kutarbani."
"Ja, das ist wahr" nickte Ajachtan Kutarbani, "mein Untertan mochte
nie besonders gern früh aufstehen, aber wenn ich aufgestanden bin,
hat er sich auch dazu aufgerafft. Es ging uns gut. Mein Untertan hatte
gute Ohren. Deswegen hatte er auch damals den Jungen mit der Flöte
gehört."
"Der in einem Dorf in der Mitte des Rechteckigen Rundwaldes wohnte."
"Genau. Wenn ich mich recht entsinne, hieß das Dorf Mauslauswiesen.
Da kam der Junge her. Sein Name war Mauswiesner. Naja, der Mauswiesner
blieb eines Tages unter meinem Fenster stehen und fing an, Flöte zu
spielen. So etwas hatten wir noch nie gehört, weder ich noch mein
Untertan! Wir bekamen unsere Mäuler gar nicht mehr zu vor lauter Staunen."
"Dabei ist dein Bart um eine Spanne gewachsen."
"Um zwei. Weil, was dieser Mauswiesner alles konnte mit seiner Flöte!
Wenn ich das doch beschreiben könnte!"
"Er trillerte, weinte und lachte auf seiner Flöte" sagte Titus,
"er jammerte, flatterte, sprang hierhin-dorthin, flog umher. Und schaukelte."
"Wie du es sagst" bestätigte der König Ajachtan Kutarbani.
Am Ende ließ ich ihm durch meinen Untertan ein Goldstück zukommen."
"Und als Mauswiesner kaum davongegangen war" setzte Titus fort, "kam
schon ein anderer Flötenspieler."
"Ja, der kam" fuhr der König fort. Der wohnte auch in Mauslauswiesen.
Er hieß Lauswiesner. Auch er fing an Flöte zu spielen. Aber
so etwas! So etwas Scheußliches! Ich und sogar mein Untertan, wir
hielten uns die Ohren zu."
"Weil er auf seiner Flöte knarrte, wimmerte und Holz sägte"
sagte Titus. "Er krabbelte hierhin und dorthin, leierte und ruckelte."
"Genau wie du es sagst" bestätigte der König. "Sofort ließ
ich ihm durch meinen Untertanen ein Goldstück zuwerfen, damit er bloß
mit dieser Folter aufhörte."
"Und so war es dann jeden Tag?"
"Ja" nickte der König. Zuerst kam Mauswiesner und bekam ein Goldstück
für sein Spielen, dann kam Lauswiesner und bekam ein Goldstück,
damit er bloß nicht einen einzigen Ton spielte."
"Jeder der beiden konnte in Mauslauswiesen von diesem Goldstück
seine Familie ernähren.
"Mauswiesner hatte eine alte Mutter und sieben kleine Geschwister,
und Lauswiesner auch. Aber wie verschieden waren doch die beiden Familien!
Denn Mauswiesner flötete auch zuhause, alle waren fröhlich; aber
Lauswiesner konnte zuhause auch keinen anständigen Ton blasen, also
stritten sie ständig."
"Das Haus wackelte nur so."
"Das eine vor Wut, das andere vor Freude."
"Am Ende verkaufte Lauswiesner seine Flöte und kaufte einen Goldbarren
dafür. Dann kam er mit diesem Goldbarren unter mein Fenster, als ob
er mit diesem Goldbarren mehr bekommen würde als mit einer schön
klingenden Holzflöte. Nicht einmal ein Loch war an diesem Goldbarren,
er war fest und voll wie ein Hackenstiel. Aber Löcher brauchte er
auch nicht, denn Lauswiesner konnte sowieso nicht Flöte spielen.
"Und so ging das lange Jahre."
"Vielleicht auch hunderte." Ajachtan Kutarbani nickte. "Doch einen
schönen Tages starben sie beide. Mauswiesner und Lauswiesner. Man
begrub sie unter meinem Palast."
"Und dann wuchs auf jedem ihrer Gräber ein Baum."
"Genau. Auf dem von Mauswiesner ein hoher, aufrechter, auf dem statt
Obst wundervolle kleine Flöten wuchsen. Auf dem von Lauswiesner ein
sstämmiger, weitverzweigter, und auf dem wuchsen flötenförmige
kleine Goldbarren."
"Wenn jemand eine Baumflöte pflücken wollte, mußte
er hoch auf den Baum klettern, weil der Baum von Mauswiesner hoch war;
aber Goldbarren konnte man auch dann pflücken, wenn man auf der Erde
stand, weil die Äste von Lauswiesners Baum so niedrig hingen."
"Wie gut du dich auskennst!" wunderte sich Ajachtan Kutarbani. "Du
kennst die Geschichte bald besser als ich!"
"Wolltest du damit sagen, daß die Geschichte jetzt zu Ende ist?"
"Von wegen zu Ende! Jetzt kommt erst das beste. Denn all die Leute,
die ins Elfenland gehen wollten, (und wer will nicht dahin?) gingen dort
an meinem holzgeschindelten Palast vorbei. Natürlich blieben sie an
den beiden Flötenbäumen stehen. Sie staunten nicht schlecht.
Dann brachen sie sich etwas von einem der beiden ab. Die einen von Mauswiesners
Baum, die anderen von Lauswiesners Baum."
"Und gingen dann weiter Richtung Elfenland."
"Richtig, aber am Eingang stand die Siebenköpfige Fee vor ihnen."
"Und lächelte."
"Mit allen sieben Köpfen."
"Als sie noch sieben hatte."
"Danach nur noch mit einem."
"Aber mit dem einen konnte sie wunderschön lächeln."
"Der Himmel füllte sich ihretwegen mit Regenbogen."
"Die Sonne verblaßte."
"Und was passierte dann?"
"Das war es, was die Siebenköpfige Fee den Reisenden sagte: 'Du
darfst eintreten, warum auch nicht, nur spiel mir zuerst etwas vor!' Wer
von Mauswiesners Baum gepflückt hatte, den ließ die Fee sofort
hinein, wer aber einen Goldbarren gepflückt hatte, der konnte blasen
wie er wollte. Der Barren pfiff nicht."
"Oder er sagte keinen Piep."
"Nicht einmal tüüü oder tiii!"
"Vom tuuu erst gar nicht zu reden!"
"Und was geschah mit denen?"
"Die ließ die Siebenköpfige Fee nicht ins Elfenland hinein.
Sie konnten unverrichteter Dinge zurückgehen mit ihren Goldbarren.
Die mit den Holzflöten bekamen alle ein Stück aus dem Elfenland.
Sie versteckten es in ihren Herzen und trugen es immer bei sich."
"Von welchen gibt es mehr, von denen mit der Holzflöte oder denen
mit dem Goldbarren?" fragte Titus.
"Das kann man nicht wissen" antwortete König Ajachtan Kutarbani,
"aber ich ahne, von welchem Baum du etwas gepflückt hast."
"Sicher von Mauswiesners" sagte Titus und holte eine kleine Flöte
hervor.
"Ich sicher auch" lachte König Ajachtan Kutarbani und holte die
Flöte aus seiner tiefsten Tasche heraus.
Sie spielten darauf. Das war es, was sie spielten:
Elfenland, so fern und nah,
In meinem Herzen bist du immer da.
Es klang sehr schön. Vor lauter Freude wuchs dem alten Mann der
Bart um drei Spannen. Titus schrumpfte er um drei. Wenn etwas schrumpfen
kann, was es nicht gibt.