aus: Ervin Lázár, Die siebenköpfige Fee
 

ENTSPRUNGENE SOMMERSPROSSEN

Markus haßte seine Sommersprossen. Von dem, was er haßte, hatte er auch genug, denn auf seinem Gesicht blühten sechsundsiebzig Sommersprossen. Ganz genau genommen waren es fünfundsiebzig, denn die eine - die sechsundsiebzigste - prangte auf seinem Ohrwaschel. Um gerecht zu sein, hatte Markus mit seinem Haß überhaupt nicht recht. Denn es waren fesche kleine Sommersprossen. Hübsche, gutaussehende, fröhliche.  Die größte war ungefähr so groß wie eine gut genährte Erbse, das kleinste wie ein Mohnkörndel nach einer Abmagerungskur. Die kleinste Sommersprosse hatte auch einen Namen: Die anderen nannten sie Spitzisprieß. Sie lebte auf Markus' Nasenspitze. Ja, und diese Sommersprossen beschimpfte und verwünschte Markus immer. So lange, bis eines Tages die Sommersprossen beleidigt waren.

"Also, wir sind häßlich, widerlich, eklig, gemein und schrecklich? Paß bloß auf!" riefen sie.

Und nachts, als Markus schlief, verschwanden sie durch das Fenster. Auch die, die sich auf dem Ohrwaschel breitgemacht hatte, obwohl es eigentlich keinen vornehmeren Ort für eine Sommersprosse gibt. Markus blieb ohne eine einzige Sommersprosse zurück, und Spitzisprieß - eigentlich eh klar - ging auch mit den übrigen mit.

Und wohin gehen sechsundsiebzig Sommersprossen? Blöde Frage - die Welt steht ihnen offen!

Am Morgen stand Markus auf und fühlte etwas Furchtbares. Er lief zu seiner Mutter, die schaute ihn verwundert an und sagte: "Guten Morgen, kleiner Junge! Wie kommst denn du hierher?"
"Was für ein Junge?" staunte Markus, "das bin doch ich,  Markus!"
"Jessasmaria" rief die Mutter und drehte ihren Sohn zum Licht. "Tatsächlich der Markus! Aber wo sind deine wunderschönen Sommersprossen?"
"Ich habe keine Sommersprossen mehr?" Markus' Augen begannen zu strahlen, und er lief sofort zum Spiegel. Irgendetwas gefiel ihm im Spiegel nicht, und er sagte traurig: "Du Mama, der Spiegel ist kaputt. Da ist ein bleiches Kind drin."
Die Mutter schüttelte den Kopf. "Mit dem Spiegel ist nichts, mein Bub. Weißt du, deine Sommersprossen..."

Markus freute sich schon nicht mehr so wie da, als er gerade entdeckte, daß sich seine Sommersprossen davongemacht hatten. "Wenigstens eine hätte dableiben können" dachte er sich. "Spitzisprieß oder die, die auf meinem Ohrwaschel war." Und mit hängendem Kopf ging er einkaufen. Weil er immer seiner Mutter half und es sehr mochte, in die Geschäfte zu gehen. In den Geschäften mochte man ihn auch, denn auch wenn er manchmal etwas frech war, konnte er doch sehr lieb sein.

Aber jetzt schauten ihn der Fleischhauer, der Bäcker, der Gemüsehändler, der Blumenverkäufer und die Trafikantin so komisch mit zusammengekniffenen Augen an. "Ja, und wo ist der Markus?"

"Der bin ich" sagte Markus und ahnte nichts Gutes.

"Soso" meinte der Fleischhauer.

"Hmhm" meinte der Bäcker.

"Nono" meinte der Gemüsehändler.

"No-na" meinte der Blumenverkäufer.

"Nanu" meinte die Trafikantin.

"Weil: Unser Markus ist ein fescher Bub mit Sommersprossen, du bist aber ein bleicher Knabe mit weißer Haut. Man kann nicht sagen, daß du häßlich bist, aber unser Markus dagegen...!"

Und sicher bekam Markus an diesem Tag ein bißchen flachsigeres Fleisch, ein bißchen gestrigeres Brot; Karotten, die ein bißchen blaßgelber waren, Blumen, die ein bißchen verwelkter waren und eine Zeitung, die ein bißchen von vorgestern war. Verbittert ging er die Stiegen hoch, beinahe hätte er geweint.

"Was hast du?" fragte seine Mutter.

"Meine Sommersprossen" seufzte Markus, "ich will meine Sommersprossen wiederhaben!"

Ja, und dann schauten sie erst einmal in der Wohnung. Sogar unter dem Teppich guckten sie nach. Aber keine einzige Sommersprosse fanden sie.

Was sollte er anderes machen. Markus ging in die Stadt. Erst ging er ins Fundbüro.
"Grüß Gott" sagte Markus.
"Grüß Gott" antwortete der Leiter des Fundbüros, ein Opa mit Brille, und sah dabei nicht von seiner Zeitung auf. "Regenschirm? Handschuhe? Aktentasche? Geldbörsel? Oder haben Sie vielleicht Ihren eigenen Kopf verloren?"

"Ich suche meine Sommersprossen" sagte Markus.

"Wie sahen die aus?"

"Braun und rund. Alle fünfundsiebzig."

Der alte Mann stand auf, ging zu einem großen Regal und wühlte in dem Kramuri herum. Er hob eine Pfanne hoch.
"Hatten die Sommersprossen einen Stiel?" fragte er.

"Nein" stammelte Markus.

"Dann ist es das nicht" stellte der alte Mann fest und stellte die Pfanne zurück.

Danach legte er Markus einen Frisbee vor, eine Untertasse, einen Pudding, einen Bleistiftspitzer, eine Linse, eine Erbse, eine Bohne, eine Kohletablette, einen Schuhknopf, einen Hemdenknopf und ein Putenei.
"Bitte schön, alles rund und braun. Welches ist es?"

"Leider keins von denen" sagte Markus traurig und schaute hungrig auf das Putenei.

Vom Fundbüro ging er zur Polizei. Dort empfing ihn ein Wachtmeister.

"Also, Sie suchen entsprungene Sommersprossen?"
"Ja."

"Waren die betrunken?"
"Nein."

"Haben sie gestohlen?"
"Nein."

"Haben sie jemanden beraubt?"
"Nein."

"Auf welche Weise haben sie gegen das Gesetz verstoßen?"
"Gar nicht."

Der Wachtmeister hob die Arme. "Ja und?"

Markus galoppierte zur Gemeindeverwaltung.

Der Pförtner runzelte die Stirn. "In Sprossenangelegenheiten? Vielleicht ist da die Fischereibehörde zuständig."

In den Räumen der Fischereibehörde malte ein Mann gerade einen großen Fisch an die Wand.
"Sprossen? Vielleicht Sprotten, Kieler Sprotten, junger Mann. Oder geräucherter Aal, geräucherte Scholle, Räucheraal..."

"Nein, Sprossen, Sommersprossen, keine Sprotten".

Der Mann schüttelte den Kopf und malte wie besessen an den Schuppen auf der Schwanzflosse des Fisches weiter. "Vielleicht in der Abteilung für Pflanzenzucht."

In der Abteilung für Pflanzenzucht saß ein freundlicher junger Mann, hinter dem linken Ohr eine Tulpe, hinter dem rechten hatte er eine Geranie, aus seinem Brusttaschel schaute eine Weizenähre, eine Gerstenähre und eine Roggenähre heraus.

"Sommersprossen? Einen Moment. Er blätterte in einem dicken Katalog. "Warte mal, Sommeraster, Sommerazalee, Sommerflieder" las er in dem Buch, dann rief er laut: "Da ist es! Sproßrüben, Sproßpilze, Sproßknolle, Sprossenkohl, Kohlsprossen! Brassica oleracea variatio gemmifera, Anerkannte Sorten: Gonsenheimer, Fest und Viel. Hast du das gesucht?"

"Nein, keinen Kohl, selber Gonsenheimer. Ich will meine eigenen Sommersprossen, und zwar fest und viel!"

Der mit den geblümten Ohren wurde traurig.
"Aber Gonsenheimer ist eine so schöne Kohlsprossensorte. Ganzjährig geeignet, auch für den beheizten und kalten Anbau unter Glas und Folie. Dann gibt es noch Hilds Ideal, Perle von Holstein, ...."

Der junge Mann vertiefte sich weiter in den Katalog und kümmerte sich nicht weiter um Markus.
"Das mußt du dir noch anhören" rief er, "welche Sorten noch für den Freilandanbau und unter Flachfolie geeignet sind!"

Markus schlich sich vorsichtig aus dem Raum, aber der  Mann bemerkte das gar nicht, er zählte immer weiter die Namen auf: "Spiral, Wilhelmsburger, dann Erfurter Zwerg, Neckarperle, Dottenfelder Dauer, Holsteiner Platter, Marner Allfrüh..."

Draußen seufzte Markus: "Zum Dottenfelder Plattenzwerg, wo können meine Sommersprossen bloß sein?"

Zum Glück im Unglück traf er Mikkamakka. Der saß auf einer Bank im Park und ließ die Beine baumeln.
"Na du?" sagte Markus und hupste neben ihn auf die Parkbank.

"Ich schau mir streunende  Sommersprossen an" sagte Mikkamakka. Heute ist die Sommersprossenwanderung wieder sehr stark."

"Sag bloß!" Markus' Augen fingen an zu strahlen. "Wieviel Sommersprossen hast du gesehen?"
"Sechsundsiebzig" meinte Mikkamakka und sah  Markus verstohlen ins Gesicht. "Hier sind sie langmarschiert. Die Armen mußten zu Fuß gehen, weil sie keine Monatskarte für die Straßenbahn hatten."
"Wo sind sie hin?" fragte Markus aufgeregt.
"Da lang." Mikkamakka zeigte in eine Richtung.

Markus war sofort auf den Beinen. Er lief seinen Sommersprossen hinterher. Bald hatte er sie gefunden.  Sie saßen traurig an einem Graben. Sechsundsiebzig traurige Sommersprossen. Eigentlich bloß fünfundsiebzig, aber das kam erst später heraus.

"Es wäre so schön, wenn ihr wieder da wärt!" sagte Markus zu ihnen.

Die Sommersprossen schauten mißtrauisch zu ihm hoch.

"Und du schimpfst nicht mehr auf uns?"

"Nie mehr" sagte Markus in tiefer Überzeugung.

"Du sagst auch nicht mehr, daß wir häßlich, widerlich, eklig, gemein und schrecklich sind?"

Markus schüttelte den Kopf.

Die Sommersprossen marschierten zurück auf sein Gesicht. Markus wollte anfangen zu lächeln, da fühlte er etwas Schreckliches.
"Seid ihr alle drauf?" fragte er besorgt.

"Einen Moment noch" sagte die Sprosse vom Ohrwaschel, "ich zähle durch. Dann rief sie aufgeregt: "Spitzisprieß fehlt! Sie ist nicht mehr auf deiner Nasenspitze!"

Also fingen sie an zu suchen. Das war schon einfacher, weil die Sommersprossen mitsuchten. Bald war sie gefunden. Sie saß auf einem Akazienblatt.

Hallo Spitzisprieß, komm du auch zurück!" sagte Markus.

Aber Spitzisprieß schüttelte den Kopf.
"Ich komme nicht, weil die sonst allein ist." Sie zeigte neben sich.
Dann sahen sie - Markus und die Sommersprossen - daß neben Spitzisprieß jemand saß. Eine aufgeregte, fremde kleine Sommersprosse.

"Darf ich vorstellen: Spratzisproß, meine beste Freundin" sagte Spitzisprieß. "Die Arme ist sehr einsam."

"Eben" sagte Spratzisproß, "immer nur herumstreunen, umeinandschwänzeln, strawanzen, herumstrolchen, flanieren, herumlungern und umherzigeunern, aber zum Glück habe ich jetzt eine Feundin, gell, Spritzisprieß?"

"Sicher" sagte Spitzisprieß. "Und deswegen werden wir ab jetzt zusammen herumstreunen, umeinandschwänzeln, strawanzen, herumstrolchen, flanieren, herumlungen, und... und... was hast du gesagt?"

"Zigeunern."

"Eben, umherzigeunern, denn wir werden uns niemals verlassen. "

"Wißt ihr was?" sagte Markus dazu. "Spratzi zieht einfach auf meine Nasenspitze um. Dort ist neben Spitzi noch Platz."

"Echt?!" riefen beide voller Freude aus und kletterten auf Markus' Nasenspitze. Spratzi war ganz aufgeregt und zappelte herum vor Freude.

"Fantastisch!" sagte sie. "Auf der Nasenspitze - das ist das Beste für eine Sprosse."

"Und Ohrwaschel, ist das vielleicht nix?" sagte die, die auf Markus' Ohrwaschel wohnte. Aber niemand kümmerte sich um sie.

Sie kamen nach Hause.

"Na Gottseidank, da seid ihr alle zusammen wieder zuhause" sagte Markus' Mutter und sah sich dann ihren Sohn genau an. "Aber irgendwas ist komisch an dir."

"Vielleicht meinst du Spratzisproß" meinte Markus. Ich wollte nicht, daß sie herumstreunt, umeinandschwänzelt, strawanzt, herumstrolcht, flaniert, herumlungert und umherzigeunert, und ohne Freund und traurig ist."

Und so geschah es. Und wenn ihr auf einen feschen Knaben trefft, der genau siebenundsiebzig Sommersprossen hat, ist das eben Markus.


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